(Identitätsbewahrung in Lettland und in Tibet)
Ab dem 12 Jh. herrschten in Lettland Grossmächte wie Russland, Deutschland, Schweden, Polen, Livonien u.a. In dieser Zeit gab es kein abgesondertes Territorium, in dem ausschliesslich Letten wohnten. Das Gebiet des heutigen Lettlands wurde damals von einzelnen sprachverwandten Stämmen geteilt, die sich jedoch nicht als eine Einheit betrachteten. In modernen Geschichtsbüchern nennt sich diese Zeit „700 Jahre des Sklavenjochs“. Heute, wenn es ein Land Lettland gibt, stellt man sich vor, dass esimmer eins gegeben hat. Man behauptet, dass das lettische Volk schon seit je her sein eigenes Land besass, aber keine Freiheit.
Diese im nachhinein inszenierte Sehnsucht nach einem freien Land und einer freien Sprache fand die Erfüllung in den Nachkriegsjahren 1918-1945, als Lettland zum ersten Mal die Unabhängigkeit erlangte. Darauf folgte die Kommunismus-Zeit mit dessen (teilweise auch von Letten angenommenem) Ideal eines Paradieses auf der Erde, im Raum der freundlichen, harmonischen, gleichberechtigten Völkergesellschaft von der Sowjet Union. In der Wirklichkeit ging dadurch der ideale Raum in Augen der Letten zugrunde, die meisten Intellektuellen wurden entweder ins Exil geschickt oder erschossen. Manche flüchteten ins Ausland, wo sie den Traum und den Kampf um ein freies Land Lettland weiter aufrecht erhielten.
Für Russen war die lettische Volksrepublik - das Baltikum-Paradies. Für Letten war im Gegenteil der Kommunismus die übelste Hölle. Das Ideal „des wunderschönen freien Landes“ wurde im Untergrund weiter gepflegt. Das Leitmotiv klang „wie damals in den Zwanzigern unter dem Präsidenten Ulmanis“ (hier muss man jedoch anmerken, dass Karlis Ulmanis alle 30 Unabhängigkeits-Jahre teilweise mit Hilfe der Armee die Monopolmacht ausübte und dass viele Letten damals seine Alleinherrschaft gar nicht so gut fanden).
In den Neunzigern begann „die singende Revolution“. Es wurden „Volkslieder- Marathone“ veranstaltet. Und unter der Führung der lettischen Volksfront wurde die Unabhängigkeit errungen. Zum Präsidenten wählte man den Enkel des vorherigen lettischen Präsidenten Ulmanis, der eigentlich gar kein besonders guter Politiker war. Die einzige Tendenz in der Politik lautete: Weg von Russland. Egal wohin! Der Idealraum wurde mal mit Europa, mal mit den USA assoziiert.
Nun sind wir in Europa. Da ertönen schon Stimmen: in der Sowjet Union war es besser: die Regierung war stabil; Arbeitsstelle, Gehalt und Rente war sicher; es gab keine Bettler auf den Strassen usw. Nun verdienen manche Leute z.B. knapp 50 € pro Monat bei fast gleichen Preisen wie Deutschland. Manche sagen: die EU ist eine neue Art der Sowjet Union. Die Reichen aus Europa, Skandinavien und USA kaufen Lettlands Wälder und Boden ab. Die Städte sind überfüllt von ausländischen Firmen. Anstatt Russisch müssen wir jetzt Englisch lernen. Und in der Zukunft werden nicht mehr Russen einwandern, sondern vielleicht Afrikaner oder Türken. Der Verlust des Lettischen wird in beiden Fällen befürchtet.
Was nun? Ein kleines Land wie Lettland kann unmöglich alleine bestehen. Die Menschen haben jedoch den Anspruch auf ein „eigenes, freies“ Land. Auch ein politisch als unabhängig definiertes Land ist nicht zufriedenstellend.
Seit dem 8. Jh. herrschten in Tibet ziemlich ungestört (mit Ausnahme vielleicht von ein Paar Hundert Jahren) Buddhismus-Ideen. Angesichts Bevölkerung und Region, hat es jedoch bis in das 20. Jh. nie ein einheitliches Kulturgebiet gegeben. Das Land war von vielen Stämmen mit verwandten Dialekten bewohnt. Um ihre regionalen Einflüsse kämpften die religiösen Oberhäupter (wie Dalai Lama, Panchen Lama, Shakya Lama u.a.). Die Beziehungen mit den Nachbarländern (vor allem mit China und Indien) waren im Grunde genommen unproblematisch. Europa oder Amerika war hier kein Begriff. Es bestand also keine akute Notwendigkeit für das Volk, nach einer territorialen Identität zu suchen. Identität war da und existierte unbewusst. Berge bildeten eine natürliche Abgrenzung zum Ausland.
Es existierten jedoch Ideale bezüglich eines spirituellen Raumes. Theoretisch konnte man dadurch Mängel des irdischen Lebens vermeiden, praktisch galten sie als Machtinstrument der herrschenden Schichten. Das Leitmotiv hiess jedenfalls „das Land Buddhas im Geist zu erreichen“. Es gab mehrere Versionen, wo dieses Land sich befand und von wem es regiert wurde. So z.B. 1) in Westen (resp. Persien oder Indien) gab es „das reine Land von Buddha Amitabha“; 2) aus dem Land „Uddiyana“ (resp. Afghanistan) kam der grosse buddhistische Meister Padmasambhava; 3) der Berg Meru als Achse der Welt war situiert auf dem heiligen Kailash in W-Tibet; 4) manche erwähnten auch einen Ort namens „Shambala“, der angeblich irgendwo in den Bergen Tibets sein sollte. Jedenfalls symbolisierten alle diese Orte die höchste Reinheit des Geistes und wurden nicht unbedingt mit einem realen Gebiet assoziiert.
Im 20. Jh. kamen Engländer aus Indien und Maoisten (resp.Guomindang) aus China und brachten mit sich eine fremde Kultur. Die tibetische Gelugpa-Regierung versuchte sich abzugrenzen, der Panchen Lama suchte Schutz vor Indien in China, der Dalai Lama suchte Schutz vor China in Indien.
50 Jahre lang propagierten Chinesen das kommunistische Paradies auf der Erde, das hier und jetzt erschaffen werden sollte. Jedoch die Kulturrevolution war die übelste Hölle für Tibeter. Infolgedessen brachten die aus Tibet fliehenden Tibeter durch den Korridor Tibet-Nepal-Indien den tibetischen Buddhismus ins Ausland. Man versuchte also zuerst die eigenen Ideale und den Glauben geheim zu halten und von der Welt zu verstecken. Ein Kulturraum blieb verschlossen in Friedenszeiten, wurde aber von den Einheimischen selber geöffnet, wenn eine Gefahr drohte. Nur wegen der chinesischen Besatzung versuchen jetzt die Tibeter mit äusserster Mühe ihre eigene Kultur und ihren Anspruch auf den eigenen Traumraum für die Welt bekannt zu machen.
Wo befindet sich nun das reine Land der Buddhas? Für uns - Westler liegt Shambhala oder Shangri-la immer irgendwo in Asien: entweder im Norden Tibets oder in uralten religiösen Stätten in W-Tibet. Es kann auch in Ladakh, in Mustang oder in Indien sein. Chinesen versuchen Shangri-la als ein reales Tourismus-Objekt in SW der Provinz Yunnan zu fördern. Die Tibeter in Chinas Tibet setzen das reine Land gleich mit Dalai Lama. Exil-Tibeter haben den Dalai Lama bei sich und hoffen jedoch auf ein „freies Land Tibet“ im Gebiet der heutigen TAR, wobei sie den Strebungen vom Dalai Lama öfters widersprechen. Der Dalai Lama plant seinerseits eine Wiederkehr in das Urgebiet von Tibet, auch unter der Macht von China. Das heutige, von chinesischen und kommunistischen Erneuerungen veränderte Tibet kann jedoch unmöglich dem Raumideal der Exil-Tibeter entsprechen. Ihre Erinnerungen gehen zurück auf das alte Tibet. Gleichzeitig spielt die westliche Kultur für sie eine grosse Rolle. Dafür zeugt die Entwicklung der tibetischen Gemeinschaften und Klosterstätten in Indien und die Zentren in Europa und Amerika.
Wo soll nun das Traumland liegen? Wo soll sich der Dalai Lama inkarnieren? Oder gar nicht? Exil-Tibeter sind sicher, dass das buddhistische Land der Geistesreinheit sich auf keinem Fall in China befindet, also auch nicht in der TAR, weil dieses Gebiet jetzt unter der chinesischen Kontrolle steht. Eine Unabhängigkeit scheint undenkbar. Ist das Traumland im Westen zu finden? In den USA?